Die Risikowahrnehmung ist marktabhängig
Die Verhaltenspsychologie zeigt: Die Wahrnehmung von Risiko ist je nach Markt- und Börsensituation sehr unterschiedlich.
Die meisten Anleger werden mutiger (d.h. die Risikowahrnehmung nimmt ab), sie fühlen sich sicherer, je länger ein Markt einem positiven Trend folgt. Bedenken werden zunehmend über Bord geworfen, Mahnungen werden überhört, man steigert sich zu Euphorie. Vice versa im Crash: die Risiken der Anlage sind äußerst präsent, werden durch Medien und Freunde verstärkt. Es dominiert die Angst vor Verlusten.
Unsere Wahrnehmung von Risiko leitet uns fehl
Es wird vielleicht überraschen, doch objektiv betrachtet verhält sich die Risikolage genau umgekehrt: Im Boom steht der Chance, dass die Kurse vielleicht noch um weitere 10% steigen könnten, das Risiko gegenüber, dass die Kurse den Höhenflug beenden und ggf. um 50% einbrechen. In der Krise, wenn alles dem Ende entgegen zu gehen scheint, ist das Verhältnis von Chancen und Risiko dagegen äußerst positiv verteilt: dem Risiko, dass die Kurse den Tiefpunkt noch nicht erreicht haben und ggf. noch weitere 10 oder 20% sinken könnten, steht die Chance gegenüber, dass sich Kurse verdoppeln können – und mehr.
Man beachte die absoluten Relationen am Beispiel einer Aktie: wenn eine Aktie, die heute € 100 kostet um 10% steigt, sind Sie um € 10 reicher geworden. Fällt sie um 50%, haben Sie € 50 an Vermögen eingebüßt. Nehmen wir mal an, dass beide Ereignisse gleich wahrscheinlich sind, so ist die ‚Wettquote’ von 5:1 nicht sehr vorteilhaft. Wenn man beim Roulett auf schwarz bzw. rot setzt, hat man bei einer nahezu 50:50 Chance eine Gewinnquote von immerhin 1:2, - und zudem vermutlich deutlich mehr Spaß. Zudem ist nachgewiesen, dass beispielsweise Aktien immer wieder zum langfristigen Mittelwert zurückkehren (Mean Reversion). Nach einem langen Kursanstieg ist eine Kurskorrektur in Richtung langfristigem Mittelwert wahrscheinlicher, als eine fortgesetzte Hausse. Die Chancen im Boom sind somit nicht einmal 50:50, der Verlust ist wahrscheinlicher.
Ist der Kurs bei € 50 angekommen, bedeutet ein weiterer Verlust von 10% lediglich einen absoluten Verlust von € 5.-. Ist die Krise überstanden und der Kurs klettert erneut auf € 100.-, kann man einen Gewinn von € 50 verzeichnen; das eingesetzte Kapital hat sich verdoppelt! Dem Risiko eines Verlustes von € 5.- steht die Chance auf einen Gewinn von € 50 gegenüber; eine ‚Wettquote’ von stolzen 1:10. Selbst wenn wir annehmen, dass der Kurs noch um 20% sinken könnte oder die Kurserholung nur bis € 75 reicht, dann beträgt die ‚Wettquote’ immerhin noch 1:5! Zudem gibt es gute Gründe zu unterstellen, dass eine Kursumkehr in Richtung langfristigen Mittelwert wahrscheinlicher ist als 50:50. Ein weiterer Verlust währe nur vorübergehend; die Gewinnquote somit besser als 50:50. ‚Wer das macht, was die Mehrheit macht, kriegt das, was die Mehrheit kriegt: einen schlecht bezahlten Job, ein Leben in Angst vor der Arbeitslosigkeit und eine Rente knapp über dem Existenzminimum’. AnlegerCampus Alles in allem also eine phantastische ‚Lotterie’. Keine andere Lotterie dieser Welt bietet solche Chancen! Diese Quoten können von der ‚Lotterie’ Börse nur deshalb bezahlt werden, weil die Mehrheit sich eben genau anders verhält: es gibt viele, die das Spiel 5:1 spielen, d.h. im Boom Bedenken über Bord werfen und kaufen, aber nur wenige, die das Spiel 1:5 wagen, d.h. in der Krise beherzt kaufen.
Die Risikowahrnehmung jedes Einzelnen ist also nicht statisch, sondern verändert sich im Marktumfeld: ungeübte Anleger beurteilen das Risiko eher pro-zyklisch, d.h. im Boom wird das Risiko unterschätzt, in der Krise überschätzt. Geübte und ‚nervenstarke’ Anleger erkennen die ‚wahren Wettquoten’ und handeln anti-zyklisch. Je mehr ungeübte Teilnehmer sich nun in einem Markt tummeln, umso größer das Potential für eine Übertreibung.
Dieses Phänomen ist in nahezu allen Märkten beobachtbar und ein wesentlicher Motor für Übertreibungen: für Boom und Bust, für Blasen und Krisen.
In Schritt 6 stellen wir Methoden vor, wie Sie Ihre eigene Psyche überlisten, wie Sie systematisch gegen den allgemeinen Trend handeln und so von dem Lauf der ‚Quoten’ profitieren können: tendenziell ‚Kasse machen’, wenn ein Markt teuer ist, und mehr kaufen, wenn ein Markt gerade günstig ist.
Exkurs fortsetzen mit
Risiko managen - die Anlagenkongruenz
oder gleich weiter zum nächsten Kapitel:
Das investierbare Vermögen - wie Sie sich eine finanzielle Basis schaffen.